Seelische Gesundheit rückt als Thema im Mai mit dem „Mental Health Awareness Month“ ein wenig mehr ins öffentliche Bewusstsein. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Behandlung psychischer Erkrankungen, sondern auch um alltagstaugliche Ideen für alle Interessierte.
Ganz platt ausgedrückt: Haben wir nicht alle unseren Rucksack zu tragen? Im Volksmund heißt es: „Unter jedem Dach ist ein Ach“ -auch wenn es von außen nicht so aussieht. Es gibt zahlreiche ressourcenorientierte Ansätze zur Stärkung des seelischen Wohlbefindens. Davon können alle nur profitieren. Eine besonders wirkungsvolle Verbindung entsteht, wenn wir zwei wissenschaftlich fundierte Konzepte zusammendenken: Achtsamkeit und Charakterstärken.
Was sind Charakterstärken – und warum sind sie relevant?
Charakterstärken sind positive, geschätzte Eigenschaften, die weltweit, religions- und kulturübergreifend als Tugenden anerkannt werden. Sie wurden in einer groß angelegten Studie identifiziert und kategorisiert. In der sogenannten VIA-Klassifikation (Values in Action) hat das VIA Institute on Character einen Grundstein für die Wissenschaft der Positiven Psychologie gelegt.
Es wurden insgesamt 24 Charakterstärken (u.a. Mut, Neugier, Selbstregulation oder Zuversicht) eindeutig abgegrenzt. Die Stärken sind in sechs Tugendkategorien gebündelt. Jeder Mensch besitzt all diese 24 Stärken, allerdings zeigen sie sich in unterschiedlicher Ausprägung. Die individuell an den stärksten ausgelebten Charakterstärken werden als Signaturstärken bezeichnet.Charakterstärken und seelische Gesundheit.
Es gibt eine Vielzahl von Studien, die vom VIA Institute referenziert werden. Der Einsatz der eigenen Signaturstärken ist u.a. mit einer höheren Lebenszufriedenheit, mehr Lebenssinn und geringerer Depressivität verbunden. Der Aufbau von Resilienz – also der Fähigkeit, mit Stress und Krisen umzugehen – wird durch ein achtsam stärkenbasiertes Leben nachhaltig unterstützt. Charakterstärken wirken sich positiv auf eine Reihe von Lebensbereichen aus: in der Gesundheit, in Beziehungen, im Beruf. All dies ist der seelischen Gesundheit zuträglich.
Achtsamkeit und Stärken als Schlüssel zur seelischen Gesundheit
Dr. Ryan Niemiec, Psychologe und Leiter des VIA Institute, betont in seiner Arbeit das große Potenzial der Verbindung von Achtsamkeit (mindfulness) und Charakterstärken. In seinem Buch “Mindfulness and Character Strengths” beschreibt er, wie sich durch achtsames Wahrnehmen und bewusstes Innehalten ein wirksamer Zugang zu den eigenen Stärken eröffnet.
Niemiec spricht von einem „bewussten Stärkenbewusstsein“: Statt unsere Stärken automatisiert oder im Autopilot-Modus zu nutzen, können wir sie durch Achtsamkeit gezielter und situationssensibler einsetzen – mit deutlich stärkeren Effekten auf unser seelisches Wohlbefinden. Achtsamkeit fördert die Stärken-Nutzung (achtsame Stärke). Und mithilfe deiner Charakterstärken förderst du deine Achtsamkeit (starke Achtsamkeit). Es handelt sich um eine positive Aufwärtsspirale, die der seelischen Gesundheit dient.
Das von Ryan Niemiec entwickelte Mindfulness Based Strengths Practice, MBSP-Programm wird inzwischen in vielen Teilen der Welt angewandt. Evaluationsstudien zeigen die Wirksamkeit dieses von ihm entwickelten 8-wöchigen Kurses.
Warum die Kombination so wirksam ist
Achtsamkeit fördert neugierige Präsenz, Selbstregulation und Akzeptanz. Charakterstärken fördern Sinnerleben, Verbundenheit und Handlungsfähigkeit. Gemeinsam schaffen sie ein inneres Gleichgewicht zwischen Sein und Tun, zwischen bewertungsfreier Wahrnehmung und Gestaltung.
Beispiel: Eine Person mit ausgeprägter Liebe zum Lernen oder begeisterter Energie läuft Gefahr, sich zu überfordern. Durch achtsames Innehalten wird erkennbar, wann diese Stärke ins „Zuviel“ kippt – und wie sich z. B. Selbstfürsorge (Güte) oder Besonnenheit als ausgleichende Stärken integrieren lassen.
Praktische Impulse für den Alltag
1. Stärken-Check-in mit Achtsamkeit
Nimm dir jeden Morgen eine Minute, um zu fragen: Mit welcher Stärke möchte ich heute bewusst in Kontakt sein? Welche Qualität unterstützt mich gerade jetzt? Spüre in dich hinein, ohne zu analysieren. Lass dich von deiner Intuition leiten.
2. Stärken-Meditation nach Niemiec
Bringe während einer Achtsamkeitsmeditation eine Stärke bewusst in dein Gewahrsein – z. B. Dankbarkeit. Atme mit dieser Qualität und beobachte, wie sich dein Erleben verändert. Lasse alle Bilder, Gedanken, Gefühle, die in dein Bewusstsein kommen, innerlich vorbeiziehen. Beobachte einfach, ohne zu urteilen. Sei offen und neugierig akzeptierend. Nutze die Charakterstärke Selbstregulation, um für einen Moment dranzubleiben.
3. Stärken-Übertreibung erkennen
Notiere Situationen, in denen du das Gefühl hattest, „zu viel“ zu geben oder innerlich aus dem Gleichgewicht zu geraten. Welche deiner Stärken war vielleicht überaktiviert? Zu viel Tapferkeit kann zum Beispiel zu Übermut führen. Zu wenig davon lässt dich vielleicht ängstlich oder verzagt sein. Wie könntest du dies durch Achtsamkeit bewusster ausbalancieren? Welches Maß ist je nach Situation die Goldene Mitte?
Die Kombination aus Achtsamkeit und Charakterstärken ist mehr als ein neuer Hype für die seelische Gesundheit. Sie ist eine Einladung zur ganzheitlichen Selbstfürsorge. Während Achtsamkeit dir hilft, aus dem Autopiloten-Modus auszusteigen, bringen deine Charakterstärken dein bestes Selbst zum Vorschein. Dieses geniale Duo unterstützt dein Wohlbefinden und schützt dein psychisches Wohlbefinden auf nachhaltige Weise. Das gilt nicht nur in schwierigen Lebensphasen, sondern für jeden von uns im ganz normalen Alltag.
Ab Herbst biete ich online MBSP Kurse an. Ich würde mich freuen, dir dazu noch mehr zu erzählen. Nimm hier gerne Kontakt mit mir auf, wenn dich das Thema neugierig gemacht hat.